Institut für Musikwissenschaft

Musik und Medien

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Projekt „Kulturen der Heimcomputermusik: Technik, Netzwerke und Produkte in den 1980er Jahren zwischen Kaltem Krieg und Globalisierung“ mit 616.089 Euro. Das Projekt ist am Institut für Musikwissenschaft und der Fachrichtung Komposition/Tonsatz angesiedelt.

  • Projektleitung: Prof. Dr. Christoph Hust, Prof. Ipke Starke
  • Kooperationspartner: Prof. Dr. Martin Roth (Ritsumeikan-Universität Kyoto)
  • Mitarbeiter:innen: Niayesh Ebrahimisohi M. A., Hanna Hammerich M. A.
  • Beratung: Prof. Dr. Manuel Burghardt (Universität Leipzig), René Meyer
  • Wissenschaftliche Hilfskräfte: Lindsey King B. A., Honoka Oka B. A.

„The computer moves in“, hatte das Time Magazine am 03.01.1983 mit dem Foto einer Installation von George Segal getitelt. Auch in der Musik eroberte der Heimcomputer die Wohn-, Arbeits- und Kinderzimmer. Hatte Max Mathews 1963 auf der Decca-LP Music from Mathematics eine Umsetzung von Henry Dacres Daisy („Bicycle Built for Two“) noch auf einem IBM-Großrechner realisiert, so wurde der Song 1975 bei einem Treffen des Homebrew Computer Clubs von Steven Dompier auf einem technisch zweckentfremdeten Altair 8800 abgespielt – „no less than a major rewriting of computer history“, bilanzierte Steven Levy.[1] – Das DFG-Projekt soll die Geschichte von Hardware, Software und Nutzer:innen der Heimcomputermusik in den 1980er Jahren und ihre Einbettung in das 1979 von Jean-François Lyotard beschriebene „postmoderne Wissen“ erforschen.[2] Es setzt auf Bruno Latours Verständnis eines Akteurs auf, der „von vielen anderen zum Handeln gebracht wird“ und somit das „Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten“ sei, „die zu ihm hin strömen“.[3] In diesem Sinne können unbelebte Dinge wie Chips, Programme und Dateiformate als Akteure verstanden werden. Zum einen spiegeln sie die Gesellschaft und Kultur ihrer Zeit, zum anderen initiieren sie kulturelle Prozesse.

Beispielsweise reflektiert die Entwicklung der Soundchips in Commodore-Heimcomputern musikalische Praxen ihrer Zeit: Im Zeitalter des Synthesizers erhielt der C64 (1982) mit „SID“ einen digitalen Synthesizer mit analogen Komponenten, während „PAULA“ im Amiga (1985) bereits auf der Sampling-Technologie aufsetzte, wogegen wiederum der Atari ST (ebenfalls 1985) mit serienmäßig verbauter MIDI-Schnittstelle in professionellen Tonstudios (und bis vor wenigen Jahren auch noch in der Lehre an der HMT) eingesetzt wurde.

Software und Computercode sind ebenfalls kulturell geprägt. Chris Hülsbecks Soundmonitor (1986) zeigt den Ansatz eines Programmierers: Musik wird hexadezimal chiffriert und wie Computercode von oben nach unten (statt von links nach rechts) angeordnet. Auf die Frage, ob er sich als Musiker oder als Programmierer verstehe, antwortete Hülsbeck: „Programmierer, ich kann keine Noten lesen“.[4] Als Electronic Arts 1982 Will Harvey’s Music Construction Set und 1986 das Deluxe Music Construction Setveröffentlichte, resümierte die Presse, dies sei „one of the best programs to help serious musicians compose“ und ein „flexible, detailed composition program“[5] – das DMCS fand also seine Marktnische als professionelle Anwendung für Komposition und traditionellen Notensatz. Dagegen richtete sich Instant Music, ebenfalls 1986 von EA publiziert, an den Hobbybereich: „I wanted to build a music programme that would let people provide the creativity but make the computer do most of the work“, erklärte der Entwickler Robert C. Campbell in der Dokumentation. Die Fachpresse beschrieb Instant Music als ein „intelligent electronic instrument“ und „the triumph of technology over talent“, „turning the complete idiot into a composer“. Es stehe gegen die Vorstellung „that only music scholars should be allowed the joy of musical performance“ und erlaube seinen Nutzer:innen „to expand [their] horizons, and that […] is what computers are all about“.[6] Dem entsprechend präsentiert sich das Programm mit einer intuitiv zugänglichen grafischen Notation, die an Lochkartensysteme oder Klavierrollen erinnert. Schließlich brachte die Komponistin Laurie Spiegel ebenfalls 1986 das musiktheoretisch anspruchsvolle Improvisationstool Music Mouse heraus, das sie in einem Artikel im Computer Music Journalals Beispiel eines „intelligent instruments“ nannte.[7] In pentatonischen, diatonischen, oktatonischen und anderen Tonsystemen angeordnete Klänge werden auf einer aus Klaviaturen definierten Matrix visualisiert.

Technologien standen hier jeweils in Wechselwirkung mit der musikalischen Kultur, die sie umgab. Der Computer wird zum Musikinstrument: „Computer spielen“ ist nichts fundamental anderes als „Klavier spielen“. Musik erscheint dabei ebenso als Prozess und kulturelle Praxis wie als Produkt, wobei die Notations- und Visualisierungsmodi diverse Zugänge reflektieren: Die unterschiedlichen Interfaces verschleiern, mit Friedrich Kittler gesprochen,[8] die eigentliche Funktionsweise des Geräts.

Dieser Ansatz einer Ermächtigung zur Kreativität wurde zum Marketinginstrument: Commodore engagierte für die Präsentation des Amiga den Künstler Andy Warhol und die Sängerin Debbie Harry, Apple ließ den Macintosh zu den Klängen von Vangelis’ Chariots of Fire Gemälde, Typografie und Architektur anzeigen. Der „Personal Computer“, so die Verheißung, entfessele die persönliche Kreativität: Visionen von Joseph Beuys, Leslie Fiedler und Andy Warhol, nach denen jeder Mensch als Künstler zumindest kurzzeitig ins Rampenlicht treten und vermeintliche Gräben einer stratifizierten Kultur überwinden könne, wurden in der neuen, gelegentlich seltsam unkritischen technologischen Euphorie als greifbar dargestellt.

Das Projekt soll eine erste Schneise durch diese weithin unerforschten Terrains bahnen. Dabei werden auch Transferprozesse zwischen Ost und West und der Austausch mit der japanischen Computer(musik)kultur grundlegend untersucht. Hierfür gehen in den Arbeitsbereichen der drei Mitarbeiter:innen eine musikgeschichtliche Perspektive, eine die Kulturwissenschaft und Informatik überblendende Methodik und eigene kompositorische Experimente Hand in Hand. Regelmäßige Podcasts werden über den Fortschritt des Projekts informieren.

[1] Steven Levy, Hackers. Heroes of the Computer Revolution, Cambridge u. a. 2010, S. 205f.

[2] Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 9/2019.

[3] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 5/2019, S. 81.

[4] Andrew Draheim, „Von der Spielidee ins Regal“, in: 64’er Nr. 2, 1988, S. 20.

[5] Rezensionen in Ahoy! Nr. 5, 1984, S. 49/52, und Info Nr. 1, 1987, S. 56–58.

[6] Rezensionen in Byte: The Small Systems Journal 11/13, 1986, S. 308/310, in AmigaWorld 2/6, 1986, S. 74f., und in Compute! Nr. 4, 1987, S. 67f.

[7] Laurie Spiegel, „Regarding the Historical Public Availability of Intelligent Instruments“, in: Computer Music Journal 11/3, 1987, S. 7–9.

[8] Friedrich Kittler, „Es gibt keine Software“, in: ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 233; vgl. Frieder Nake, „Surface, Interface, Subface: Three Cases of Interaction and One Concept“, in: Paradoxes of Interactivity, hrsg. von Uwe Seifert u. a., Bielefeld 2008, S. 92–109.

Das DAAD-Projekt zur Musik in The Legend of Zelda findet 2025/26 im Austausch zwischen der HMT Leipzig und der Ritsumeikan-Universität Kyoto statt.

Das DAAD-Projekt fand 2023/24 im Austausch zwischen der HMT Leipzig und der Ritsumeikan-Universität Kyoto statt.

Spiele sind ein wichtiger Bestandteil aller Kulturen. Spielmechaniken und -metaphern speichern grundlegende Weltsichten. Das betrifft auch die Musik, etwa in der Zahlenordnung der mittelalterlichen Rithmomachie, zu Konzepten musikalischer Form in Johann Philipp Kirnbergers Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist (1757), zur Musiktheorie in Anne Youngs Musical Games and Apparatus (1801) usw. Schon 1938 hat Johan Huizinga in seinem Buch Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel auf weitere strukturelle Analogien von Musik und Spiel hingewiesen, die sich in vielen europäischen Sprachen in Ausdrücken wie »Klavier spielen«, »jouer de la flûte«, »play the violin«, »играть на кларнете« usw. manifestieren.

Das Projekt »Game Music Cultures in Japan and Germany« untersucht sowohl analoge Spiele (v. a. Brettspiele) als auch die seit den 1980er Jahren immer einflussreicheren digitalen Spiele (Computer- und Konsolenspiele) bezüglich der kulturellen Signifikanz der in ihnen thematisierten oder enthaltenen Musik. Dies geschieht im internationalen Austausch deutscher und japanischer Forscher:innen zur Spielemusik in diesen beiden Ländern. Zentral wird gefragt, ob und wie sich der Umgang mit der Musik im Spiel in Deutschland und Japan unterscheidet und welche gegenseitigen Beeinflussungen sich erkennen lassen.

Das Vorhaben gliedert sich in drei Teilprojekte:

  • Repräsentationen von Musik in Brettspielen in Deutschland und Japan
  • Kulturalität von Musik in digitalen Spielen in Deutschland und Japan
  • Fankulturen der Spielemusik in Deutschland und Japan

Jedes Teilprojekt wird von einem Tandem aus je einem:r Teilnehmer:in aus Deutschland und aus Japan bearbeitet. Dabei soll überprüft werden, ob in allen drei Feldern sowohl nationalspezifische Besonderheiten als auch globale Trends wirksam sind. Ihr Zusammenspiel wird das Projekt exemplarisch untersuchen und fragen, wie sich diese Faktoren auf analoges und digitales Spiel verteilen. Das Projekt trägt insofern auch Bausteine zu einer kulturell verorteten Mediengeschichte des Spiels bei.

Wirtschaftsbücher dokumentieren das Geschäftsverhalten eines Unternehmens aus einer ökonomischen Perspektive. Sie erlauben aber nicht nur Rückschlüsse auf den unternehmerischen Erfolg, sondern auch auf den Markt, der durch das Unternehmen bedient wird. Das Musikverlagswesen macht hier keine Ausnahme – Produkte und Produktion reagieren auf eine Nachfrage, generieren sie andererseits aber möglicherweise auch erst. Die Analyse von Wirtschafts- und Kalkulationsbüchern vermag deshalb dem Bild der Musikgeschichte, wie es sich aus persönlichen Aufzeichnungen, Aufführungen oder zeitgenössischen Publikationen ergibt, weitere Facetten hinzuzufügen und ergänzende Auskunft über historische Kanonisierung- und Geschmacksbildungsprozesse zu geben.

Um diesen Aspekten einer Alltags-Kulturgeschichte näher zu kommen, erfasst das DFG-geförderte Projekt Wirtschaftsdaten dreier Musikverlage (C. F. Peters, Friedrich Hofmeister, Rieter-Biedermann). Auf der Grundlage dieser Daten werden neue Fragen zum Musikalienmarkt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts jenseits persönlicher Vorlieben einzelner Akteur_innen gestellt. Diese betreffen nicht nur die sonst schwer auszuleuchtende Musikgeschichte des Privaten, sondern auch Wechselwirkungen im öffentlichen Musikleben: Wie beeinflussten sich Verkaufserfolg, öffentliche Aufführungen und Rezensionen? Welche Moden, Konjunkturen, Präferenzen können identifiziert werden?

In der Musikverlagsdatenbank werden dabei Normdaten zu den verlegten Werken, die in der Gemeinsamen Normdatei gepflegt werden, mit den Verlagswirtschaftsdaten (wie Auflagen- und Absatzhöhe) verknüpft, so dass Tendenzen beispielsweise für bestimmte Komponist_innen, Gattungen, Besetzungen, regionale Vorlieben erkennbar werden. Insgesamt werden dafür ca. 20.000 Geschäftsbucheinträge erfasst und mit Normdatensätzen für musikalische Werke in der GND verbunden, die dafür in der Mehrzahl der Fälle eigens angelegt oder qualifiziert werden. Ziel der Datenbank ist, die Geschäfts- und Werkdaten für quantitative Analysen aufzubereiten und entsprechende Abfragen über die Homepage selbst möglich zu machen. Sie wird deshalb traditionelle Verlagsverzeichnisse zwar nicht ersetzen, dennoch wird die Datenbank zugleich als umfassendes Nachschlagewerk zu Platten- und Verlagsnummern sowie als Datierungshilfe für (Erst-)Drucke aller Art dienen können. Die so entstehenden digitalen Roh- und Forschungsdaten zum Musikverlagswesen werden open access bereitgestellt.

Kontextualisiert werden diese im Lauf des Projekts erfassten Wirtschaftsdaten schließlich mit vielfältigen weiteren Quellen, um die quantitativ ermittelten Ergebnisse qualitativ zu vertiefen und so das Bild der Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts um Facetten einer Alltagsgeschichte zu erweitern.

HMT Leipzig

  • Prof. Dr. Christoph Hust (Projektleitung)
  • Maximilian Rosenthal (Gesamt-Projektkoordination)
  • Linda Deckbar (Datenerfassung Wirtschaftsdaten)
  • Christopher Klatt (Datenerfassung Wirtschaftsdaten)
  • Elisabeth Posnjakow (Datenerfassung Wirtschaftdaten)
  • Svenja Rademacher (Datenerfassung Wirtschaftsdaten)
  • Josias Schill (Datenerfassung Wirtschaftdaten)
  • Forschungspraktikant*innen (Auswertung Musikpresse)

SLUB Dresden

  • Prof. Dr. Barbara Wiermann (Projektleitung)
  • Katrin Bicher (Projektoordination SLUB)
  • Matthias Richter (Datenbankprogrammierung, Websiteprogrammierung, Visualisierung)
  • Marie von Lehsten (Normdatenerfassung)
  • Claudia Lubkoll (Normdatenerfassung)
  • Dr. Ines Pampel (Normdatenerfassung)
  • Sylvie Reinelt (Normdatenerfassung) 

Musik, Ästhetik, Theorie

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Forschungsprojekt „Carl Reinecke als Schlüsselfigur des Leipziger Musikbetriebs im späten 19. Jahrhundert: Studien zu seiner institutionellen Vernetzung und pädagogischen Wirkung“ mit insgesamt 412.300 Euro. Das gemeinsame Projekt der Institute für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig (HMT) und der Universität Leipzig (UL) soll im Laufe von drei Jahren Reineckes Tätigkeit im Rahmen der Leipziger Musikkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts untersuchen. Hierfür arbeiten an der UL Niklas Schächner M. A., an der HMT Johanna Schuler M. A. an Dissertationsprojekten, die im einen Fall Reineckes Netzwerke, im anderen Fall seine Tätigkeit als Kompositionslehrer am Konservatorium fokussieren.

Charakteristisch für Reinecke erscheint sein weit gespanntes Verantwortungsprofil. Die zwei Arbeitspakete untersuchen dies am Beispiel seiner Einbettung in die Tätigkeiten im Verlag (insbesondere Breitkopf & Härtel) und in Leipziger Konzertinstitutionen (insbesondere als Gewandhauskapellmeister) auf der einen Seite, durch seine vielfältigen Rollen in der Leitung und Lehre des Konservatoriums einschließlich der von ihm vertretenen expliziten oder impliziten musiktheoretischen und musikästhetischen Leitsätze auf der anderen Seite. Diese Felder können nicht voneinander getrennt verstanden werden: Es ist anzunehmen, dass die Kompositionen, die Reinecke im Unterricht oder auch in Publikationen wie der Monografie Meister der Tonkunst (mit biografischen und analytischen Kapiteln zu Haydn, Mozart, Beethoven, Weber, Mendelssohn Bartholdy und Schumann) oder dem Sinfonie-Kapitel in Spemanns Goldenem Buch der Musik besonders empfahl, auch in der Programmgestaltung am Gewandhaus eine wichtige Rolle spielten. Zu seinen ehemaligen Studierenden bestanden Verbindungen, die sowohl die Aufnahme von deren Kompositionen in Verlags- und Konzertprogramme erleichterten als auch Reinecke selbst an den weitgespannten Tätigkeitsorten seines Netzwerks Wege ebnen konnten. Seine eigenen Kompositionen spielten im Konzert, als Verlagsprodukte und als Beispielsetzungen im Unterricht mehrfach eine wichtige Rolle. All dies geschah vor dem Hintergrund des ohnehin institutionell ausdifferenzierten, aber auch personell eng verflochtenen Leipziger Musiklebens dieser Zeit mit seinen insbesondere am Konservatorium prononciert vertretenen ästhetischen Grundsätzen.

Wie groß Reineckes Einfluss auf das Musikleben und die Präferenzen einer jüngeren Generation von Musikerinnen und Musikern war und wie er sich im Detail äußerte, wird das Projekt im Einzelnen klären. Sein Wirken erscheint besonders aufschlussreich, weil alle Facetten seiner Tätigkeit ebenso große Unterstützung fanden wie andererseits auch – bekanntermaßen etwa im Falle von Ethel Smyths Tadel seines Unterrichts – mit vehementer Kritik bedacht wurden. In einschlägigen Darstellungen wie der 1981 erschienenen Geschichte des Gewandhauses setzte sich in der Konsequenz teils eine einseitige Bewertung Reineckes als eines besonders konservativen Musikers durch, der die Entwicklung des Leipziger Musikbetriebs eher gehemmt als gefördert habe. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass Reinecke wohl kaum so lange zentrale Positionen hätte bekleiden können, wenn sein Wirken tatsächlich von den verantwortlichen Zeitgenossen allgemein so negativ eingeschätzt worden wäre. Insofern soll das Projekt das Bild Reineckes in Leipzig differenzieren, dabei aber auch über seine Person hinaus Grundzüge des Leipziger ebenso wie des überregionalen Musiklebens in einer Umbruchzeit veranschaulichen. Das bis dahin vorherrschende Modell des musikalischen Allrounders, das Reinecke paradigmatisch verkörperte, wurde in dieser Zeit immer weiter durch die berufliche Spezialisierung als Dirigent oder Instrumentalistin, Pädagoge oder Komponistin ersetzt. Welche Rolle Reinecke, die Institutionen des Leipziger Musiklebens vom Gewandhaus bis zum Verlag und die Pädagogik am Leipziger Konservatorium in diesem Prozess spielten, soll das Projekt erstmals im Detail erforschen und so zu einer teilweisen Neubewertung der Musikgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts beitragen. Das Projekt setzt an beiden Instituten auf vielfältigen Vorarbeiten auf, darunter an der HMT der Archivdatenbank der Hochschulbibliothek und dem Musikverlagsprojekt (siehe zu beidem das MT-Journal Nr. 53, S. 27–29 und S. 44–47), aber auch auf dem Kauf des Briefwechsels von Ethel Smyth mit ihrer Mutter oder einem Studientag zur Kanonbildung in Spemanns Goldenem Buch der Musik durch die Masterstudierenden der Musikwissenschaft (2014).

Projektleitung

Prof. Dr. Christoph Hust (HMT), Prof. Dr. Stefan Keym (UL)

Mitarbeiter/in

Johanna Schuler M. A. (HMT), Niklas Schächner M. A. (UL)

Wissenschaftliche Hilfskräfte

Florian Giering B. A. (HMT), Bea Mayer (UL)

In Verbindung mit dem Deutschen Historischen Institut Rom wird am Institut für Musikwissenschaft die Publikation einer Übersetzung der musiktheoretischen Werke von Gioseffo Zarlino erarbeitet. Als Grundlage dient die Übersetzung von Prof. Dr. Christoph Hohlfeld (1922–2010), die von Daniela v. Aretin revidiert wird. Die Übersetzung soll als Lesehilfe für die Lektüre des italienischen Originals dienen. Eine Kommentierung und ein vollständiger Nachweis von Zarlinos Quellen sind im Rahmen des Projektes nicht möglich. Projektleitung: Dr. Markus Engelhardt (Rom) und Prof. Dr. Christoph Hust (Leipzig)

Die Übersetzungen finden Sie auf der Plattform Zenodo.

  • Übersetzung: Christoph Hohlfeld
  • Revision: Daniela v. Aretin
  • Notensatz: Johannes Tunger
  • Texterfassung: Julian Gunkel, Sarah Lindenmayer

herausgegeben von Markus Engelhardt (Rom) und Christoph Hust (Leipzig)

Zum Übersetzer

Christoph Hohlfeld wurde 1922 in Pegau (Sachsen) geboren und starb 2010 in Hamburg. Prägend waren für ihn die Jahre in Leipzig als Mitglied des Thomanerchores unter Karl Straube und Günter Ramin. Zwischen 1933 und 1941 hat Hohlfeld Bachs gesamtes geistliches Werk unmittelbar erfahren – viele der Bachkantaten wurden in dieser Zeit erstmals wieder aufgeführt – und er konnte sich im Verlauf der sieben Jahre ›durch alle Stimmlagen singen‹. Nach Krieg und Gefangenschaft schloss sich ein kurzes Kompositions- und Musiktheoriestudium in Leipzig bei Wilhelm Weismann und Arnold Matz an. Stationen der Lehrtätigkeit waren in den 1950er Jahren Halle, Berlin und Dresden, bevor Hohlfeld 1960 durch Wilhelm Maler zunächst als Dozent für das Fach Allgemeine Musiklehre an die Hochschule für Musik und darstellende Kunst nach Hamburg berufen und dort 1968 zum Professor für Komposition und Musiktheorie ernannt wurde.

In Hamburg begann Hohlfeld neben seiner Lehrtätigkeit intensiv den einstimmigen gregorianischen Choral und die Theorie der modalen Mehrstimmigkeit zu studieren. In zum Teil mehreren Arbeitsschritten übertrug er zahlreiche Werke der schwarzen und weißen Mensuralnotation von der Ars antiqua über Machaut und Dufay bis Ockeghem aus den Faksimiles in Partitur. Der Musik Palestrinas in ihrer linearen und satztechnischen Vollkommenheit galt stets sein leidenschaftliches Interesse, unbeirrt davon, dass jene in den 1970er und 80er Jahren zu einem Zeitgeist in Widerspruch stand, der Palestrina in die zweite Reihe hinter Komponisten wie Josquin verwies. Die Motivation, das große Projekt einer Übersetzung von Zarlinos Gesamtwerk anzugehen und über viele Jahre zu verfolgen, bestand für Hohlfeld mit Sicherheit darin, auf diese Weise einem adäquaten Verständnis der Musik Palestrinas näher zu kommen. Den unmittelbaren Anstoß dürfte jedoch ein Exemplar der Istitutioni harmoniche im Originaldruck (1558) aus den Beständen des Hamburger Johanneums gegeben haben, das seinerzeit frei zugänglich in den Regalen der Hamburger Hochschulbibliothek stand. Mit einer baldigen Veröffentlichung seiner Übersetzungsarbeit konnte Hohlfeld indes nicht rechnen.

Den Schlüssel zu Hohlfelds eigenem musiktheoretisch-analytischen Ansatz bildet seine Theorie der Melodie. Dabei ist das Interesse zunächst auf den Einzelton gerichtet, auf dessen Unverwechselbarkeit und Strahlkraft, bevor dieser in einen melodischen, stimmigen oder klanglich-harmonischen Kontext integriert wird. Hohlfeld sah in der Melodie ein eigenständiges System, einen Gegenentwurf zur Harmonik. Dieses System blieb auch dann wirksam, wenn die Melodie, wie in der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts, durch andere Prinzipien wie Harmonik oder Metrik absorbiert wird. Zur Zeit der 1960er und 70er Jahre, als Musiktheorie noch mehr oder weniger mit ›Harmonielehre‹ gleichgesetzt wurde, war diese Sichtweise nichts weniger als bahnbrechend. Die Ergebnisse der Arbeit gingen in drei Buchpublikationen ein, die Hohlfeld nach dem Eintritt in den Ruhestand herausbrachte. Einen unmittelbaren Bezug zu Zarlino hat das 1994 erschienene Kontrapunktlehrbuch Schule musikalischen Denkens. Der Cantus-firmus-Satz bei Palestrina. Es folgten die mehr analytisch ausgerichteten Bücher Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier 1722. Schule musikalischen Denkens, Teil 2 von 2000 und Beethovens Weg. Schule musikalischen Denkens, Teil 3 von 2003, alle erschienen in Wilhelmshaven. Mehr zu Hohlfelds Musiktheorie in Reinhard Bahr, »…immer das Ganze sehen.«. Zum musiktheoretischen Ansatz Christoph Hohlfelds, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 5/2–3 (2008), S. 335–346, online unter <https://doi.org/10.31751/300>.

Im Jahr 1992 wurden Prof. Christoph Hohlfeld auf Vorschlag des damaligen Fachbereichs Komposition/Theorie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und in Anerkennung seiner musiktheoretischen Leistungen Titel und Würde eines Dr. sc. mus. ehrenhalber verliehen.

Reinhard Bahr

Altobasso

Bezeichnung für eine mit einem Schlägel geschlagene langrechteckige Kastenzither, die in Verbindung mit einer Einhandflöte gespielt wird

Artes liberales

die sieben freien Künste (in der Antike entstandener Kanon von sieben Studienfächern; Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie)

Brevis

Notenwert der Mensuralnotation (unterteilt in Semibreven)

Canon

1. Anweisung, Vorschrift (zur Ausführung einer Komposition)
2. Kanon (mehrstimmige Komposition)

Cantus

Sopran

Cantus figuratus

mehrstimmiger, mensurierter Gesang

Cantus firmus

rhythmisch gleichförmiger, einstimmiger (Choral-)Gesang

Cantus planus

rhythmisch gleichförmiger, einstimmiger (Choral-)Gesang

Causa efficiens

Wirkursache (Aristoteles); z. B.: Warum bewegt sich die Säge? Weil sie jemand bewegt

Causa exemplaris

Exemplarursache (Relation zwischen Universalien und Einzelursache)

Causa finalis

Zweckursache (Aristoteles); z. B.: Wozu wird gesägt? Um Brennholz zu gewinnen

Causa formalis

Formursache (Aristoteles); z. B.: Warum zerkleinert eine Säge Holz? Wegen der funktionsgerechten Form des Sägeblatts

Causa materialis

Materialursache (Aristoteles); z. B.: Warum besteht die Säge aus Metall? Sie muss hart genug sein, um Holz zu zerkleinern

Chroma

Notenwert der Mensuralnotation (Unterteilung der Semiminima; Synonym: fusa)

Clavis

1. Tonstufe
2. Notenschlüssel

Confinalis

Nebenschlusston, Nebenfinalis

Consequenza

(strenger, intervallgetreuer, in einer Stimme notierter) Kanon

Consonantia simplex – consonantia composita

einfache Konsonanz – zusammengesetzte Konsonanz

Contrapunto obbligato

Bezeichnung für eine Kontrapunktstimme, in der eine kurze Tonfolge stets wiederholt und dabei rhythmisch variiert wird

Contrapunctus simplex – contrapunctus diminutus

einfacher Kontrapunkt (Note gegen Note) – diminuierter Kontrapunkt (mehrere Noten gegen eine Note)

Cornamusa

Sackpfeife, Dudelsack

Coro spezzato

Bezeichnung für die Praxis des mehrchörigen Singens zwischen zwei sich im Wechsel antwortenden Chorgruppen

Corpus sonorus

Klangkörper

Diapason

Oktave

Diapente

Quinte

Diatessaron

Quarte

Diësis

1. Viertelton (Hälfte des kleinen Halbtons)
2. Bezeichnung für das Versetzungszeichen um einen Halbton nach oben (heute: Kreuz)

Ditonus

große Terz

Ecclesia militans – ecclesia triumphans

»streitende Kirche« (Bezeichnung für die Christen der Gegenwart) – »triumphierende Kirche« (Bezeichnung für die Christen, die sich in der unmittelbaren Anschauung Gottes befinden)

Ekmeles

zur musikalischen Verwendung nicht geeignet (mit Bezug auf Intervalle)

Emmeles

zur musikalischen Verwendung geeignet (mit Bezug auf Intervalle)

Falso bordone

dreistimmige Satzart, bei der der parallel zur melodieführenden Oberstimme im Abstand einer Quarte bzw. einer Sexte zwei Unterstimmen erklingen

Finalis

Schlusston, Finalis

Fuga

(strenger, intervallgetreuer) Kanon

Fuggir la cadenza

»Fliehen vor der Kadenz« (Bezeichnung für eine unvollkommene Kadenz, die nicht wie erwartet abgeschlossen wird; vergleichbar dem Trugschluss)

Furor poeticus

dichterische Inspiration

Fusa

Notenwert der Mensuralnotation (Unterteilung der Semiminima; Synonym: chroma)

Genus

1. Gattung (Oberbegriff zu species)
2. Tongeschlecht (diatonisch, chromatisch, enharmonisch)

Genus multiplex

Zahlenverhältnis, bei dem die größere Zahl die kleinere Zahl mehr als einmal enthält

Genus superparticulare

Zahlenverhältnis, bei dem die größere Zahl die kleinere Zahl einmal ganz und einmal teilweise enthält

Genus superpartiens

Zahlenverhältnis, bei dem die größere Zahl die kleinere Zahl einmal enthält sowie mehrere Teile der kleineren Zahl

Grundform [einer Proportion]

Bezeichnung für eine vollständig gekürzte Proportion

Grundzahlen [einer Proportion]

Bezeichnung für die Zahlen, die eine Proportion in ihrer vollständig gekürzten Grundform aufweist

Harmonia

geregelte Tonfolge, Tonart

Harmonia humana

Bezeichnung für die im menschlichen Körper bestehende Harmonie

Harmonia mundana

Bezeichnung für die im Aufbau der Welt bestehende Harmonie

Harmonia non propria

Harmonie, harmonische Übereinstimmung

Harmonia propria

Harmonik, Mehrstimmigkeit

Heptachordum minus – heptachordum maius

kleine Septime – große Septime

Hexachordum minus – hexachordum maius

kleine Sexte – große Sexte

Imperfekt

1. unvollkommen
2. in zwei kleinere Notenwerte unterteilt

Imperfektion

1. Zweizeitigkeit (eines mensuralen Notenwerts)
2. Imperfizierung

Imperfizieren

einen dreizeitigen Notenwert durch Verkürzung zweizeitig machen

Longa

Notenwert der Mensuralnotation (unterteilt in Breven)

Minima

Notenwert der Mensuralnotation

Minima legata

punktierte Minima

Modus

1. Tonart
2. Bezeichnung für die mensurale Unterteilung der Longa
3. Weise, Melodie

Modus abundans

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit erweitertem Ambitus

Modus collateralis

Seitentonart, Nebentonart (Bezeichnung für die plagalen Kirchentonarten)

Modus communis

Bezeichnung für eine Tonart mit erweitertem (authentischem und plagalem) Ambitus

Modus diminutus

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit eingeschränktem Ambitus

Modus imperfectus

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit eingeschränktem Ambitus

Modus lateralis

Seitentonart, Nebentonart (Bezeichnung für die plagalen Kirchentonarten)

Modus mixtus

Bezeichnung für eine Tonart mit erweitertem Ambitus, der nicht aus dem authentischen und plagalen Ambitus derselben Grundtonart besteht

Modus perfectus

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit regulärem Ambitus

Modus principalis

Haupttonart (Bezeichnung für die authentischen Kirchentonarten)

Modus superabundans

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit erweitertem Ambitus

Modus superfluus

Bezeichnung für eine Kirchentonart mit erweitertem Ambitus

Musica animastica

Bezeichnung für die Harmonie der Weltseele (zwischen dem Kosmos und dem einzelnen Lebewesen, speziell dem Menschen)

Musica artificialis

Bezeichnung für die künstliche, auf von Menschen gemachten Instrumenten erzeugte Musik (in Abgrenzung zur mit der naturgegebenen Stimme gesungenen Musik)

Musica da battere

auf Schlaginstrumenten hervorgebrachte Musik

Musica da chorde

auf Saiteninstrumenten hervorgebrachte Musik

Musica da fiato

auf Instrumenten mit Tonerzeugung durch Luft hervorgebrachte Musik

Musica ficta

Musik mit nicht-diatonischen Halbtönen

Musica harmonica

Bezeichnung für die mit der naturgegebenen Stimme erzeugte Vokalmusik

Musica humana

Bezeichnung für die im Menschen bestehende Harmonie

Musica metrica

Bezeichnung für die metrische Dichtung bzw. Dichtungslehre (Metrik)

Musica mensurata

Bezeichnung für die (mehrstimmige) Mensuralmusik

Musica mundana

Bezeichnung für die im Kosmos, den Elementen und Jahreszeiten bestehende Harmonie

Musica naturalis

Bezeichnung für die mit der naturgegebenen Stimme erzeugte Vokalmusik

Musica organica

Instrumentalmusik

Musica plana

rhythmisch gleichförmiger, einstimmiger Choralgesang

Musica practica

praktische Musik, Musikpraxis

Musica rhythmica

Bezeichnung für die rhythmische Dichtung bzw. Dichtungslehre (Rhythmik)

Musica speculativa

Musiktheorie

Musica theorica

Musiktheorie

[Numeri] complicati

Bezeichnung für ein kommensurables Zahlenverhältnis, bei dem sich die größere Zahl aus einer Multiplikation der kleineren herleiten lässt (z. B. 2 : 6 bzw. 2 : (2 × 3))

[Numeri] sesquati

Bezeichnung für ein kommensurables Zahlenverhältnis, bei dem sich die größere Zahl nicht aus einer Multiplikation der kleineren herleiten lässt (z. B. 4 : 5)

Numerus sonorus

klingende Zahl, Proportionszahl, Zahlenverhältnis

Perfekt

1. vollkommen
2. in drei kleinere Notenwerte unterteilt

Perfektion

Dreizeitigkeit (eines mensuralen Notenwerts)

Perfizieren

einen zweizeitigen Notenwert durch Verlängerung dreizeitig machen

Presa

Bezeichnung für ein Zeichen, das den Einsatz einer weiteren Stimme im Kanon kennzeichnet

Prolatio

Bezeichnung für die mensurale Unterteilung der Brevis

Proportio aequalitatis – proportio inqaequalitatis

Verhältnis aus gleichen bzw. ungleichen Zahlen

Proportio maioris inaequalitatis – proportio minoris inaequalitatis

Verhältnis der größeren zur kleineren (ungleichen) bzw. der kleineren zur größeren (ungleichen) Zahl

[Proportio] dupla

[Proportion] 2 : 1

[Proportio] sesquialtera

[Proportion] 3 : 2

[Proportio] sesquioctava

[Proportion] 9 : 8

[Proportio] sesquiquarta

[Proportion] 5 : 4

[Proportio] sesquiquinta

[Proportion] 6 : 5

[Proportio] sesquitertia

[Proportion] 4 : 3

Proprietas naturalis

Bezeichnung für das Hexachord auf C (mit den Tönen CDEFGA)

Proprietas b quadrati bzw. b duri

Bezeichnung für das Hexachord auf G (mit den Tönen GAHCDE)

Proprietas b rotundi bzw. b molli

Bezeichnung für das Hexachord auf F (mit den Tönen FGABCD)

Prosa

Bezeichnung für tropierte Gesänge (mit syllabisch austextierten Melismen)

Punctus alterationis

Bezeichnung für einen Punkt, der eine zweiteilige Note um die Hälfte ihres Wertes verlängert

Punctus augmentationis

Bezeichnung für einen Punkt, der eine zweiteilige Note um die Hälfte ihres Wertes verlängert

Punctus divisionis

Bezeichnung für einen Punkt, der Mensureinheiten abteilt

Punctus perfectionis

Bezeichnung für einen Punkt, der die Dreiteiligkeit der vorausgehenden Note anzeigt

Pyknon

Bezeichnung für dicht zusammenstehenden, tieferen Töne des chromatischen und enharmonischen Tetrachords

Quantitas continua

Bezeichnung für Größen mit fließendem Übergang, die nicht klar gegeneinander abgegrenzt werden können

Quantitas discreta

Bezeichnung für messbare Größen, die gegeneinander abgegrenzt und miteinander verglichen werden können

Relatio harmonica – relatio non harmonica

Bezeichnung für das harmonische Verhältnis zwischen zwei Tönen oder Stimmen – Querstand

Relative Primzahlen

Bezeichnung für Zahlen, die keinen gemeinsamen Teiler haben (teilerfremde Zahlen)

Relative zusammengesetzte Zahlen

Bezeichnung für Zahlen, die einen gemeinsamen Teiler haben

Replica

Umkehrung (im Kontrapunkt)

Semibrevis

Notenwert der Mensuralnotation (unterteilt in Minimen)

Semichroma

Notenwert der Mensuralnotation (Unterteilung der Chroma)

Semidiapason

verminderte Oktave

Semidiapente

verminderte Quinte

Semidiatessaron

verminderte Quarte

Semiditonus

kleine Terz

Semiminima

Notenwert der Mensuralnotation (Unterteilung der Minima)

Semitonium

Halbton

Soggetto

Bezeichnung für eine charakteristische Tonfolge, die als Konstruktionselement für einen kontrapunktischen Satz dient

Species

1. Art, Erscheinungsform (Unterbegriff zu genus)
2. Erscheinungsform eines Intervalls (Struktur, die von der Abfolge von Ganz- und Halbtönen bestimmt wird)

Suspirium

Bezeichnung für die Minima-Pause

Symphonia

Bezeichnung für ein Musikinstrument (vermutlich ein Saiteninstrument)

Systema – diastema

Bezeichnung für das größere Intervall in Abgrenzung zum kleineren – Bezeichnung für das kleinere Intervall in Abgrenzung zum größeren

Systema teleion

»großes System«; Bezeichnung für das Tonsystem der griechischen Antike, das zwei Oktaven umfasst und in Tetrachorde gegliedert ist

Tempus

Bezeichnung für die mensurale Unterteilung der Brevis

Tempus perfectum – tempus imperfectum

Bezeichnung für eine dreizeitige bzw. zweizeitige Unterteilung der Longa

Tenor

1. Rezitationston (in der Psamodie)
2. Kennmelodie, Singweise
3. Grundstimme eines musikalischen Satzes

Trihemitonium

Bezeichnung für ein Intervall aus drei Halbtönen

Tonus

1. Ganzton
2. Tonart

Tropus

Tonart

Vox continua

Bezeichnung für die Sprechstimme

Vox discreta

Bezeichnung für die Singstimme

  • Übersetzung: Günter Scheibel
  • Revision: Jacob Langeloh und Frank Böhling

hrsg. von Markus Engelhardt und Christoph Hust

 

Sie erreichen die Übersetzung über die Plattform Zenodo.

 

Vorwort zur Übersetzung

Die Musurgia universalis entstand zum Jubeljahr 1650 in Rom, im Zentrum des katholischen Christentums, durch einen Angehörigen der wohl schlagkräftigsten religiösen Vereinigung der Zeit, den Jesuitenpater Athanasius Kircher (1602–1680). Als Teil eines gewaltigen Publikationsprogramms, das nahezu alle Wissensgebiete umfasste, sollte diese Ars magna consoni et dissoni das Wissen zur Musik ebenso sammeln wie systematisch erweitern, dabei ordnen und bewerten und nicht zuletzt theologisch interpretieren. So entstand ein Buch, das von den physikalischen und physiologischen Grundlagen des Schalls bis zur Mathematik reicht, von der Satzlehre bis zu kuriosen Erfindungen, von der Philologie bis zur Philosophie, von der Musikgeschichte bis zum höchst individuellen Blick auf die damalige musikalische Gegenwart, von der Naturhistorie bis zur (jesuitischen) Theologie. Kirchers barocker Enzyklopädie all dessen, was klingt oder sich auf Klingendes beziehen lässt, kommt heute trotz ihrer (teils auch strategischen) Lücken eine zentrale Position in den Quellen zur Musik und zum Musikverständnis des 17. Jahrhunderts zu.

Ausgaben und Übersetzungen

Als Faksimile liegt die Musurgia universalis in einer Edition von Ulf Scharlau vor (Hildesheim und New York 1970). Wer sich nicht auf die Lektüre von Kirchers gelehrt verschlungenem Latein einlassen wollte oder konnte, musste bisher jedoch mit Auszügen vorliebnehmen. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass ausgerechnet ein protestantischer Pfarrer, Andreas Hirsch, im Jahre 1662 eine erste Teilübersetzung ins Deutsche vorlegte (Kircherus Jesuita Germanus Germaniae redonatus, sive Artis Magnae de consono et dissono ars minor. Das ist, Philosophischer Extract und Auszug aus deß weltberühmten teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda Musurgia Universali in sechs Bücher verfasset, darinnen die gantze philosophische Lehr und Kunst-Wissenschaft von den Sonis wie auch der so wol theoretisch- als practischen Music mit höchster Varietät geoffenbaret […] und vor Augen gestellet wird, Schwäbisch Hall 1662). Diese Übersetzung hat zwei moderne Neuauflagen erfahren, zuerst herausgegeben von Wolfgang Goldhan (Kassel u. a. 1988), dann von Melanie Wald-Fuhrmann (ebd. 2006). Sie kann als erste Orientierung und als Dokument des Rezeptionsprozesses der Musurgia dienen, weist aber entscheidende Schwächen auf. Als Philosophischer Extract betitelt, bringt sie, grob gesagt, die Schnittmenge dessen, was Hirsch interessierte, was er als protestantischer Theologe noch vertreten konnte, was er sinnvoll fand, was er seinen Lesern zumuten wollte und was er selbst verstand. Aus knapp 1200 Folio- wurden knapp 400 Oktavseiten. Dadurch fällt, um ein zentrales Beispiel zu nennen, bereits die Definition dessen weg, was Klang eigentlich sei (MU A, Buch I, S. 3; der Passus müsste bei Hirsch auf S. 4 stehen). Diese Definition mag in der Tat übermäßig komplex wirken. Sie ist aber essenziell für Kirchers weitere Auseinandersetzung mit Schall als physikalischem Phänomen, die ohne vorherige Klärung in der Luft hängt. Als Autor des 17. Jahrhunderts hat Hirsch zudem in hohem Maße von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, schwer zu übersetzende Wörter schlicht im Lateinischen zu belassen und beim Leser als bekannt vorauszusetzen. All das macht die Übersetzung heute schwer zu benutzen.

Zusätzlich – und auch zusätzlich zum Spezialfall der aus der Musurgia hervorgegangenen Phonurgia nova (1673), die als Neue Hall- und Thon-Kunst 1684 ebenfalls in deutscher Übersetzung erschien – existieren einige moderne Teilübersetzungen. Schon 1956 entstand an der State University of Iowa die Masterarbeit von Frederick Baron Crane, Athanasius Kircher, Musurgia Universalis (Rome, 1650): The Section on Musical Instruments. Größtenteils Auszüge aus dem zehnten Buch erschienen in Joscelyn Godwins Harmonies of Heaven and Earth. The Spiritual Dimension of Music from Antiquity to the Avant-Garde, London 1987, das wiederum ins Deutsche übersetzt wurde als Musik und Spiritualität. Quellen der Inspiration in der Musik von der Frühzeit bis in die Moderne, Bern 1989. Ulf Scharlau dagegen hat die paraphrasierende Übersetzung, die er in Vorbereitung seiner damals wegweisenden Dissertation Athanasius Kircher […] als Musikschriftsteller. Ein Beitrag zur Musikanschauung des Barock (Marburg 1969) angefertigt hatte, nicht veröffentlicht und später vernichtet. Gewiss gibt es zahlreiche weitere solcher Teilübersetzungen in diverse Sprachen, die verschiedene Forscherinnen und Forscher jeweils für ihren privaten Gebrauch angefertigt hatten.

Zur Übersetzung von Günter Scheibel

Dass ein solch zentrales Dokument wie die Musurgia universalis bislang also nicht vollständig übersetzt zugänglich war, hat zum Teil wohl mit dem monumentalen Umfang zu tun. Mitsamt Vorreden, Index und Errataverzeichnis umfasst sie fast 1300 eng bedruckte Folioseiten, und in unserer Übersetzung sind nahezu 1700 Seiten daraus geworden. Eine vollständige Übertragung blieb vermutlich allein deswegen jahrelang ein Desiderat. Geändert hat sich das durch die hartnäckige Arbeit von Günter Scheibel (1940–2012). Nach dem Studium der Fächer Latein, Germanistik und Philosophie hatte er als Studiendirektor an verschiedenen Gymnasien in Frankfurt am Main gelehrt. Durch den Auftrag der Übersetzung eines Briefes von Kircher an Johannes Hevelius (Danzig) war sein Interesse an Athanasius Kircher geweckt worden, dessen Erforschung nach seiner Pensionierung und auch während einer schweren Krankheit ein wesentlicher Teil seiner Arbeitskraft galt. Er wirkte an der Ausstellung Magie des Wissens (Würzburg 2002) mit und übersetzte neben der Musurgia universalis auch die Arithmetica practica generalis (1763) nach dem Cursus mathematicus von Kaspar Schott (hrsg. als Rechenbüchlein von Hans-Joachim Vollrath, Würzburg 2009).

Nach seinem Tod gingen im März 2013 die Dateien an Christoph Hust (Hochschule für Musik und Theater Leipzig), mit dem Günter Scheibel bereits während der Übersetzung Kontakt gehabt hatte. In Kooperation mit Markus Engelhardt (Deutsches Historisches Institut Rom) war es möglich, eine Überarbeitung dieser Übersetzung in die Wege zu leiten. Auf Vermittlung von Wilhelm Schmidt-Biggemann (Freie Universität Berlin) konnten Jacob Langeloh (Universität Freiburg) und Frank Böhling (Freie Universität Berlin) für diese Revision gewonnen werden. Elisabeth Sasso-Fruth (Hochschule für Musik und Theater Leipzig) steuerte Übersetzungen aus dem Italienischen bei. Das Ergebnis liegt nach wiederum fünfjähriger Arbeit nunmehr, im Februar 2018, vollständig vor. Unseres Wissens ist es die erste komplette Neuübersetzung eines Buchs von Kircher in dieser Größenordnung. Dass wir sie frei im Netz präsentieren können, ist nur durch das großzügige Einverständnis von Sigrid Scheibel sowie die finanzielle und organisatorische Unterstützung durch das DHI und die HMT möglich. Kircher, der neuen Technologien stets aufgeschlossen gegenüberstand, hätte das sicherlich gut gefallen. Es ermöglicht zudem, die Übersetzung künftig weiter zu verbessern. Anregungen dazu sind stets willkommen.

Prinzipien der Übersetzung und ihrer Revision

Wir verstehen die Übersetzung als eine Lesehilfe. Anderes ist bei diesem Text grundsätzlich nicht denkbar. Kircher war ein hervorragender Stilist, der die Stilhöhen, die Ambivalenzen und die Mehrdeutigkeiten der lateinischen Sprache virtuos zu nutzen wusste. Hierin liegt eine fundamentale Schwierigkeit, die eine Kircher-Übersetzung prinzipiell zum heiklen Unterfangen macht. Um vorerst nur ein Beispiel zu nennen: Was Kircher unter dem Wort spiritus zusammenfassen kann, müsste im Deutschen je nach Kontext eigentlich in verschiedene Begriffe auseinanderdividiert werden. Nach der galenischen Körperlehre sind drei Spiritus oder Pneumata im Körper tätig: spiritus naturalis, spiritus vitalis und spiritus animalis. Sie sind jeweils den vegetativen Funktionen, der Bewegung und der Seele zugeordnet. Diese »Geister«, um eine erste mögliche Übersetzung ins Spiel zu bringen, sorgen für Bewegung im Körper. Das deutsche Wort »Geist« lässt aber jene dynamische Qualität vermissen. Auf der anderen Seite handelt es sich bei spiritus und πνεῦμα (pneuma) um den »Atem«, der dem Menschen durch Gott eingehaucht wurde und in Analogie zum heiligen Geist steht, der ebenfalls als Spiritus (Sanctus) benannt wird. Würde man spiritus jedoch bloß als »Atem« übersetzen, so träfe das zwar den lebensspendenden Aspekt, aber weder die »spirituelle« Dimension, die im Geist mitschwingt, noch die dynamische Funktion, die in dreifacher Weise im menschlichen Körper vor sich geht. Wenn Kircher das Wort spiritus verwendet hatte, konnte er alle diese Aspekte stets mitdenken und vereinen: Es handelt sich um eine atemähnliche Bewegung in Form eines Hauchs im Körper, der diesen in dreifacher Weise antreibt, analog zum göttlichen Geist ist, von Gott eingehaucht wurde und die Essenz der menschlichen Lebendigkeit, mithin seinen Geist, verkörpert. Möchte man dagegen im Deutschen die Verständlichkeit im Einzelnen erhöhen, so würde man zugleich diese vielfachen Sinnbezüge zerstören. Die Übersetzer haben sich in diesem grundsätzlichen Dilemma für das auf den ersten Blick vielleicht überraschend anmutende, auf ähnliche Weise schillernde Wort »Hauch« entschieden.

Ambivalenzen – die Enzyklopädie als Eines

Das Gesagte mag man für ein grundsätzliches Problem des Übersetzens halten. Das stimmt, aber im speziellen Fall ist es mehr: Die Polyvalenz der Begriffe liegt im Konzept der Musurgia universalis begründet. Eindeutigkeit ist nicht Kirchers Ziel, Mehrdeutigkeit hingegen schon; er stellt sich in eine platonisch-aristotelisch geprägte Tradition, in der man noch von der Möglichkeit ausgehen konnte, die Dinge der Welt akkurat zu benennen – ein Konzept, das sowohl durch den cartesianischen Rationalismus als auch durch den britischen Empirismus in Frage gestellt wurde (was eine Generation nach Kircher Johann Matthesons scharfe Attacken gegen die Musurgia universalis mitbefeuerte). Kircher geht mithin von einer grundsätzlichen Kongruenz von menschlichem Erkenntnisvermögen und göttlicher Schöpfung aus. Insofern redet er die Dinge einfach an, wie sie sind, teils auch ohne eine einheitliche Terminologie zu suchen. Auf der anderen Seite führt sein systematisches Interesse jedoch dazu, Mehrdeutigkeit auch ganz bewusst zu konstruieren. Kircher entfaltet in seinem Œuvre im Allgemeinen, wie sich alles in allem findet – »omnia in omnibus« –, und in der Musurgia im Speziellen, wie die Dinge zueinander in harmonischen Verhältnissen stehen. Möchte ein Mensch die Welt beeinflussen oder das Göttliche erkennen, so muss er die Ähnlichkeiten zwischen den Dingen wahrnehmen und ihre proportionalen Verhältnisse verstehen. Sobald er diese manipulieren kann, sobald er Konsonantes mit Dissonantem verbinden kann, bleibt ihm nichts verschlossen. Resümierend schreibt Kircher zum Abschluss der Musurgia universalis (Buch 10, S. 461 in der lateinischen Ausgabe, S. 157 der Übersetzung):

»Da die ganze Vollkommenheit der Dinge in dem vollkommenen, ausgeglichenen Mischungsverhältnis besteht, kann in der Natur der Dinge kein Geheimnis so abwegig sein, dass zu ihm niemand vordringen könnte durch Angleichen des Konsonanten an das Dissonante auf diesem Polychord des Weltensystems nach den im Vorausgegangenen vorgestellten Regeln.«

Insofern ist es für Kircher geradezu vorteilhaft, wenn Sprache mehrdeutig bleibt. Sie erlaubt ihm dann, verschiedene Aspekte eines Dings in einem Wort aufzuheben und die Verflochtenheit der Welt en passant auszustellen.

Stimmen und Zitate – die Enzyklopädie als Bibliothek

Als weitere Hilfe zur Lektüre wäre es daher hilfreich, eine Übersicht über die wichtigsten Begriffe der Musurgia universalis, ihre jeweiligen Bedeutungsfelder und ihre Übersetzung zu geben. Bei näherem Hinsehen stellt sich auch diese Absicht allerdings als schwer zu erfüllen heraus. Die Musurgia ist gewissermaßen ein Flickwerk, die Enzyklopädie ist zugleich eine ganze Bibliothek. Kircher und seine Mitarbeiter haben vielen Werken – insbesondere zeitgenössischen – ausführliche Textblöcke entnommen, oft ohne sie zu kennzeichnen. Vieles ist zudem aus Kirchers weitgespannter Korrespondenz eingeflossen. (Das heißt nicht unbedingt, dass er im modernen Verständnis »plagiiert« habe: Er steht mit seiner kompilatorischen Praxis in einer alten wissenschaftlichen Tradition, und in der Regel tauchen wenigstens die Namen der konsultierten Autoritäten doch irgendwo auf – nur nicht unbedingt an den Stellen, an denen er sie dann in seinen Text einflicht. Ausnahmen erlaubt er sich freilich bei protestantischen Autoren, die er teils nicht zur Kenntnis nimmt, teils nicht nachweist.) Dann kann prima facie auch kaum erwartet werden, dass alle Begriffe über das gesamte Werk hinweg konsistent gebraucht würden.

Stilebenen – die Enzyklopädie als Experimentierkasten

Die Musurgia universalis ist bei aller philosophischen und theologischen Spekulation des Überbaus oft ein überraschend praktisches Werk. In detaillierten Beschreibungen versucht sie experimentelle Aufbauten zu vermitteln. Sie lehrt, wie man sich in die Landschaft stellen soll, um ein besonders schönes Echo zu erzeugen (Echotektonik), wie man Töne zusammenfügt, damit sie besonders schön zusammenklingen (Melothesia, Kompositionslehre), wie man Zahlen addiert und Parabeln konstruiert, wie man einen äthiopischen Text vertont, ohne etwas von Musik zu verstehen (Musarithmik) und vieles mehr. Ziel der Übersetzung war auch, diese im Lateinischen angelegten Textebenen zu unterscheiden, die Günter Scheibel wunderbar ins Deutsche gebracht hat: die direkte, plaudernde, manchmal flapsige Ansprache an den Leser, welcher Handgriff als nächstes für das Gelingen eines Experiments zu tun sei, das staunende Wundern über die Welt, die ehrfürchtige Anrufung Gottes. So war es ein Ziel der Revision, den Stil von Günter Scheibels Übersetzung möglichst wenig anzutasten.

* * *

Über alle diese Entscheidungen lässt sich streiten. In der Summe erwächst aus ihnen die Kennzeichnung der Übersetzung als Lesehilfe, die den lateinischen Text zwar erschließen, aber nur in Verbindung mit ihm (und teils vielleicht in kritischer Distanz zur Übersetzung) einen Sinn rekonstruierbar machen soll. Sie ist gelegentlich frei, um an anderen Stellen streng dem Text zu folgen – auch dann, wenn geläufige musiktheoretische Termini wörtlich übertragen werden –; im Zweifelsfall ging Verständlichkeit vor unbedingter philologischer Exaktheit. Damit streift der deutsche Text gelegentlich die Grenze zur Paraphrase. Das gilt vor allem dann, wenn wir als Übersetzer uns nicht sicher waren, ob Kircher als Autor sich sicher war, was er im Einzelnen schrieb. Dass er nämlich kein ausgebildeter musikalischer Fachmann war, merkt man seinem Text an vielen Stellen an. Hier mussten im Einzelfall Kompromisse gefunden werden, ob wir uns eher paraphrasierend für eine Sinngebung entscheiden oder dem lateinischen Text im Deutschen sein teils erhebliches Maß an Unverständlichkeit zurückgeben wollten.

Die Lektüre der Übersetzung ersetzt also in keinem Fall die Lektüre des Originaltextes. Überdies ist die Übersetzung kein Kommentar. Dafür wären umfangreiche weitere Arbeiten nötig, und zwar beginnend bei der Feststellung des zu übersetzenden Textes. Die überlieferten Exemplare der Musurgia universalis unterscheiden sich; hier wurden – während des Drucks oder in verschiedenen Auflagen? – Umbrüche verändert, letzte Korrekturen eingearbeitet und sonstige Modifikationen vorgenommen. All dies konnten und wollten wir in diesem Rahmen nicht klären. Ferner konnten wir zwar einige Zitate identifizieren (und damit einen zumindest vorläufigen Überblick über Kirchers Quellen geben), haben uns aber in dieser Hinsicht keine Vollständigkeit zur Aufgabe gestellt. Kirchers zeitgenössische Quellen werden mit Kurztitel und Erscheinungsort angegeben, antike Quellen mit gebräuchlichen Kurztiteln und Zählungen. Verweise innerhalb der Musurgia universalis werden in der Form »MU A, 33« gegeben. Gemeint ist dann: Musurgia universalis, Band A, Seite 33. Biblische Bücher werden abgekürzt zitiert, die Psalmenzählung erfolgt als »114 (113)«, wobei die erste Zahl für die heutige Zählung steht, die zweite für die der Vulgata. Die originale Paginierung wird grün in spitzen Klammern gegeben. Kirchers Marginalien haben wir in kleinerer Schrifttype zu Zwischenüberschriften umfunktioniert.

Der folgende Entwurf eines Glossars zentraler Begriffe beschränkt sich auf eine Auswahl derjenigen Fachtermini, die besonders vieldeutig sind und dabei zumeist eine bedeutende systematische Funktion erfüllen. Viele weitere Fachwörter sind nur innerhalb ihres jeweiligen Argumentationszusammenhangs relevant. Insofern haben wir (in gewisser Weise auf den Schultern von Andreas Hirsch stehend) in der Übersetzung häufig das ursprüngliche lateinische Wort in eckigen Klammern ergänzt, also etwa »Lebenshauch [spiritus vitalis]«, um die Rekonstruktion zu erleichtern. Diese lateinischen Begriffe geben zugleich einen Ausgangspunkt für ein mögliches erweitertes Glossar der zentralen Begriffe in Kirchers Musurgia universalis.

Choragus: Chorführer. Das hierarchische Verhältnis von Gott zu den Engeln und den Engeln zu den Menschen wird im Sinne eines Chorleiters/Chorführers, des Choragus, ausgedrückt. Gott fungiert dabei als Archichoragus, als oberster Chorführer. Dieser Metapher zu Gute kommt die Rede von den himmlischen Chören, die Kircher als Grundprinzip der gesamten Weltordnung annimmt (vgl. das Schema MU B, 450).

Combinatio: Kombination. Kirchers Wunderwaffe in Hinblick auf die Generierung von bedeutsamen Inhalten ist die Kombinatorik. Aus wenigen voneinander unterschiedenen Grundelementen lässt sich durch Änderung ihrer Abfolge und Wiederholung eine unendliche Vielfalt generieren. Wenn man die Regeln der Musiktheorie hinreichend versteht, kann man durch Ausnutzung dieser sich mathematisch ergebenden Vielfalt eine unendliche Anzahl »guter« Musikstücke erzeugen – so denkt Kircher es sich jedenfalls (insbesondere am Anfang von Buch 8, MU B, 1ff.), ohne viel Rücksicht auf weitere ästhetische Kriterien zu nehmen.

Complexio: siehe temperamentum.

Consonare, dissonare: Konsonieren, dissonieren. Der wohltuende oder schmerzhafte Zusammenklang von Tönen dient Kircher als Formel für Harmonie und Konflikt im Universum allgemein. Insofern wundert es nicht, dass Kircher sein Werk zwar als Musurgia universalis betitelt, gleich darauf [»sive«] aber auch als Die Große Kunst der Konsonanz und Dissonanz. Auch im wissenschaftlichen Diskurs folgt Kircher diesem Bild. Meinungen, die unbegründet, gar haarsträubend erscheinen, werden von ihm häufig als misstönend bezeichnet.

Harmonia: Harmonie. Wenn von Musik die Rede ist, spricht Kircher fast ausschließlich von Harmonia und fast nie von Musica oder ähnlichem. Da das harmonische Verfugen des Gegensätzlichen zentrales Anliegen seines Werkes ist, geschieht dies mit systematischer Absicht.

Harmosta: Harmosta. Der spartanische ἁρμοστής war ein Aufseher, der in besetzte Gebiete entsandt wurde. Für Kircher ist aber die Etymologie von einem Menschen, der Dinge (harmonisch) zusammenfügt, relevanter. Gott ist insofern sowohl der Herrscher über alles als auch derjenige, der alle Dinge harmonisch miteinander in Verbindung bringt. Andere Bezeichnungen für Gott sind Erzchorführer (Archichoragus) sowie Organist (organoedus, MU B, 365ff.).

Intentio, Remissio: Anspannung, Erschlaffung; Erhöhung, Erniedrigung. Kirchers instrumentale Experimente gehen von einer einzelnen gespannten Saite, dem Monochord aus. Anspannung und Erschlaffung einer Saite, die zu einem höheren bzw. tieferen Ton führen, werden daher als Bezeichnung für Tonerhöhungen und -erniedrigungen im Allgemeinen verwendet, sei es bei der menschlichen Stimme oder bei anderen Instrumenten.

Ligatura, Syncopatio: Bindung, Synkopierung. Kirchers Musikphilosophie fußt darauf, dass dissonante Klänge durch ihre Verbindung mit Konsonanzen harmonisch werden können. Das gilt etwa für die Quarte, die, wenn sie oberhalb einer Quinte eine volle Oktave bildet, für Kircher im Einklang mit der musiktheoretischen Tradition harmonisch wird, sonst aber fragwürdig bleibt. Ein weiterer Fall ist das, was Kircher – auch hier auf dem Boden der musiktheoretischen Terminologie seiner Zeit stehend – mit Bindung und Synkopierung bezeichnet. Er spielt dabei auf die Vorbereitung von Dissonanzen an, durch die eine Dissonanz regelgerecht eingeführt und aufgelöst wird, die dadurch weniger einschneidend klingt als wenn sie unvorbereitet erreicht worden wäre: Durch Bindung und Synkopierung wird das Dissonante harmonisch. Diese Idee möchte Kircher in jeglichem Feld angewendet wissen, so auch bei den Planetenkonstellationen (MU B, 383), die für ihn das irdische Leben bestimmen, oder bei der Partnerwahl (MU B, 428).

Melothesia: Tonsatz. Kircher bezeichnet die meisten Kompositionen mit diesem Wort, benutzt aber auch gelegentlich compositio. Für einige Stücke wird auch modulatio verwendet, was an die lange verbreitete Definition »musica est bene modulandi scientia« (Augustinus) erinnert. Modulandi kann dabei einfach »Singen« heißen. Wegen der grundsätzlichen, das Vokale übersteigenden Bedeutung wird modulatio häufiger einfach als Stück übersetzt. 

Modulatio: siehe Melothesia.

Musica: siehe Harmonia.

Musurgia: Musurgie. Im Titel des Werkes sind die Aspekte der Μοῦσα und des ἔργειν miteinander verschränkt, es geht also um das Machen der Musik. Insofern deutet der Titel auf die immanent praktische Bedeutung des Werkes: Es soll nicht nur die theoretische Grundlage der Musik darstellen, sondern auch jedermann das Komponieren sowie die richtige Einrichtung von persönlichem Befinden, Tugend und Staatswesen in harmonischer Ordnung beibringen.

Numerus sonorus: Klingende Zahl. Als eigenständige Wissenschaft benötigt die Musik einen Gegenstand, der nur ihr zukommt. Dies ist (mit einem Begriff, den nach Boethius u. a. Zarlino geprägt hatte) die »klingende Zahl«. In ihrer Definition (MU A, 45) verwebt Kircher mehrere Komponenten: Die klingende Zahl wird zur Beschreibung von Klängen verwendet, sie findet sich in Instrumenten als Proportion und bezeichnet die Intervallabstände im harmonischen System. Sie umfasst insofern gleichzeitig die Lehre der Proportionen wie auch die in der Welt vorgefundene Proportionalität, in der Kircher sämtliche Geheimnisse der Beschaffenheit der Welt aufgehoben sieht.

Organoedus: siehe Harmosta.

Organum: Instrument, Orgel, Werkzeug. Die gesamte Musik, die nicht von Stimmen erzeugt wird, fällt bei Kircher unter die Musica organica, der das sechste Buch der Musurgia gilt.

Proportio: Wie die Teile der Welt einander entsprechen, lässt sich in einfachen Zahlenwerten darstellen. Insofern sind Proportionsverhältnisse für Kircher zentral. Im Text werden diese lateinisch belassen und behalten die teilweise etwas sperrigen Namen, in die man sich jedoch rasch einliest. Die wichtigsten sind Proportio dupla [2 : 1], Proportio sesquialtera [3 : 2], Proportio sesquitertia [4 : 3], womit die grundlegenden Intervalle von Oktave, Quinte und Quarte ausgedrückt sind. Wie diese Zahlenverhältnisse zustande kommen und wie sie benannt werden, behandelt Kircher ausführlich im dritten Buch der Musurgia (ab MU A, 80).

Ratio: Verhältnis, Art und Weise und vieles mehr. Ratio ist, ähnlich wie das griechische Gegenstück λόγος, vielleicht das vieldeutigste Substantiv der lateinischen Sprache. In der Musurgia universalis kann es für ein Zahlenverhältnis ebenso stehen wie für die menschliche Vernunft, für ein vernunftmäßiges Argument oder einfach für die Art und Weise, wie etwas funktioniert oder bewerkstelligt wird. Diese vielfältigen Bedeutungen beziehen sich dennoch alle auf das vernünftige Vermögen des Menschen zurück, von dem sie ausgehen.

Reconditus: verborgen. Das Wissen, das in der Musurgia universalis vermittelt wird, ist für Kircher das allergeheimste, allerheiligste, allerwertvollste und bisher am allerwenigsten dargestellte. Alle diese Aspekte sind in einem Bündel von werbenden Bezeichnungen ausgedrückt, die gerne superlativisch verwendet werden. Dazu gehört reconditus, das auch den innersten Bereich des Tempels ausdrückt, aber auch arcanus und ähnliche Begriffe.

Remissio: siehe Intentio.

Sonus: Klang, ›ein‹ Ton. Kircher beginnt sein Werk mit einer Abhandlung darüber, was überhaupt ein Ton ist und wie der Klang entsteht (MU A, 3). Für das, was dort definiert werden soll, benutzt er das Wort Sonus. Später verwendet er in aristoxenischer Tradition noch weitere Begriffe, um einfache Klänge zu bezeichnen, etwa Tonus und Vox, wobei letztere durch eine menschliche Stimme erzeugt wird.

Syncopatio: siehe Ligatura, Syncopatio.

Temperamentum: Säftemischung, Mischung. Auch: Complexio: Gemischtheit. Galen folgend, geht Kircher davon aus, dass die Gesundheit des Menschen von der angemessenen Mischung der vier Säfte abhängt: Blut (sanguis), gelbe Galle (flava bilis oder cholera), schwarze Galle (atra bilis oder melancholia) und Schleim (phlegma). Die Bezeichnung Temperamentum oder Complexio für die Gemischtheit dieser Säfte verweist gleichzeitig darauf, dass eine angemessene, sozusagen »temperierte« Mischung die beste sei, so wie auch Maßhalten als temperantia die vierte Kardinaltugend bezeichnet.

Tonus: siehe Sonus.

Unitas: Die Eins, die Einheit, die Einsheit. Die vier ersten natürlichen Zahlen oder τετρακτύς (tetraktys), also Eins, Zwei, Drei und Vier, erlauben es, durch ihre Proportionen die grundlegenden musikalische Intervalle zu repräsentieren (Oktave, Quinte, Quarte, Duodezime (= Oktave mit Quinte), Quintdezime (= Doppeloktave)). Deswegen, aber auch darüber hinausgehend, spielten sie für die musikalisch-metaphysische Spekulation schon lange vor Kircher eine zentrale Rolle. Die »Eins« ist für Kircher dabei nicht nur eine Zahl, sondern drückt für ihn – analog zum in sich ruhenden Urgrund, aus dem die in den weiteren Zahlen repräsentierte Schöpfung ausfließt – auch den Ausgangspunkt der gesamten Musik aus (benannt als Unisonus, als Einklang). Wann immer von diesen Zahlen die Rede ist, tragen sie ihre metaphysische Bedeutung mit sich, weswegen manchmal von der »Einheit« oder »Einsheit« gesprochen wird.

Vox: siehe Sonus.