Lauschen in Leipzig
Nicht mit Foucault im Labyrinth des Diskurses ›umherzuirren‹, aber auch nicht in den systemtheoretischen ›Abstraktionslagen‹ Luhmanns zu verweilen, dabei dennoch dem vielschichtigen Phänomen ›Musik‹ wissenschaftlich gerecht zu werden – wie könnte das gelingen? Vielleicht einfach frei nach Gadamer mit der Feststellung, es sei eben ›eine eigene Aufgabe‹ das ›Gebilde‹ Musik zu ›verstehen‹ oder gar: solches Verständnis zur Sprache zu bringen. Eine in diesem Verständnis umfassende, im besten Sinne des Wortes geisteswissenschaftliche Aufgabe, für die dann wohl der Dialog oder allgemeiner das Gespräch die geeignetste Form der Verwirklichung darstellte. So ließe sich vielleicht die Sommerakademie der FG Musiktheorie am besten als Versuch beschreiben, in ein solches Gespräch zu finden, ein Gespräch auf die Bühne der Akademie zu heben, dessen Zustandekommen oder Nichtzustandekommen bestimmt, was uns als ›Musik‹ begegnet, was wir studieren und leben.
Wer aber steht hier im Gespräch? Einige Gesprächsteilnehmer_innen vor Augen und Ohren treten zu lassen, dazu bot die Sommerakademie Gelegenheit. Das weit ausgreifende Feld der lehrenden und lernenden Teilnehmer_innen, die sich von den Alpen oder aus Flandern, von der Ostsee, von Neckar, Rhein, Isar, Donau oder der Spree kommend nach Leipzig aufmachten, um sich über zwei Klavierfantasien des 19. Jahrhunderts auszutauschen, verdeutlichte, welches Verständigung stiftende Potential noch immer in ›alten Noten‹ steckt.
Dazu wurden genuin Leipziger Fäden der musikalischen Theoriegeschichte aufgenommen und über die Jahrhunderte verfolgt: von Richter, Riemann und Hauptmann bis Cook und Cohn, von ›natürlicher‹ Einheit in Dreiheit und ›richtigeren Taktstrichen‹ bis zu mathematisch operationalisierten hexatonischen Zirkeln und dem Verweis auf Wittgenstein’sche ›Sprachspiele‹. An ›Cäsuren‹ und dem Abstützen auf die Lebenswelt des ›Künstlers‹ gerieten hier schon früh Leerstellen, bewusste oder unbewusste Unbestimmtheiten, in den Blick der Theorie. Müssen nicht diese Leerstellen bis heute fruchtbar gemacht und genutzt werden, wenn es gilt, Notentext zum Sprechen, Singen und Klingen zu bringen?
So wurde dann – geleitet vom Ausblick auf die klingende Interpretation der beiden Fantasien (oder Sonaten?) – deutlich, welcher Wert im Anzeigen der Freiheitsgrade liegen kann, die ein gegebener Text der Interpretation stets lässt. An den Schnittstellen historischer, semantischer, semiotischer oder sonstiger Deutbarkeit wird die eine oder andere Wahl unweigerlich zur Interpretation (und umgekehrt Interpretation immer als Wahl lesbar, wenn auch vielleicht gar nicht so intendiert). Dabei gilt auch: Keine Interpretation ohne Analyse, keine Analyse ohne Interpretation.
Die Analysestunden des Programms zeigten, wie wenig unsere Worte ver-dichtete Tongebilde wie Schumanns op. 17 je abschließend erfassen können. Wie ein Teilnehmer treffend anmerkte, wird hier wohl eher das vorgezeichnete Schlegel’sche Motto des Lauschens verwirklicht. Würden wir nicht immer wieder versuchen, Bezüge nachzuzeichnen, bewusst zu machen, in uns aufzunehmen, die Worte anderer an gleicher Stelle aufzugreifen, mit ihnen ins Gespräch zu finden kurz: das ›Gebilde‹ in uns nachzubilden – was würde aus diesem Gebilde?
Natürlich wurde auch Mendelssohns op. 28 der analytischen Perspektive unterworfen. Aber gerade in Leipzig bieten sich auf das Wirken dieses so umfassend begabten Künstlers auch noch andere aufschließende Blickwinkel. Ohne Schriftforscher_innen und Editor_innen beispielsweise, deren Wirkstätten in den Räumen der Mendelssohn-Gesamtausgabe der Sächsischen Akademie der Wissenschaften besucht wurden, stünde ›lesbarer Text‹ nicht zur Verfügung. Bei Einsicht in Originaldokumente aus dem Archiv der HMT konnte das schiere Entziffern längst vergangener Schriftbilder als Teil der Arbeit am nachweltlichen Werkzusammenhang erlebt, im Mendelssohn-Haus museale Vermittlung der lebensweltlichen Spuren eines längst ›toten‹ Autors erfahren und die lebendige Begegnung von Mendelssohn, Mozart und Suk im abendlichen Kammerkonzert der HMT genossen werden.
Die Räume der Hochschule waren immer wieder Treffpunkt, um zu diskutieren, wie dies alles denn wohl ›Musik‹ bilde. Nun werden ja heute wie damals gerade in diesen Räumen und ähnlichen Gesprächen Menschen zu den Musiker_innen, Musiktheoretiker_innen und Musikwissenschaftler_innen, die sie sein können. Ihre Dialoge sind heute wie damals – wieder mit Gadamer – sicherlich ›auch dadurch ausgezeichnet, daß nicht einer das, was dabei herauskommt, überschaut und behauptet, daß er allein die Sache beherrscht, sondern daß man im Miteinander an der Wahrheit und aneinander teilgewinnt.‹
Dialog, Gespräch, Diskussion – im Seminar wurde auch deutlich, dass nicht alle Fragen und Beiträge zu allen Zeiten gleichermaßen produktiv aufgreifbar sind. Vielleicht liegt hier eine weitere Stärke der Akademie – ihr Angebots-Ton. Was aus diesem angebotenen Gespräch sich ›bildet‹ – dem sollten wir nach-lauschen.
Fabian Kant (HU Berlin)
Jonathan Gammert (Mainz) · Prof. Dr. Christoph Hust (Leipzig) · Prof. Dr. Stefan Keym (Leipzig) · Dr. Markus Neuwirth (Leuven) · Priv.-Doz. Dr. Peter Niedermüller (Mannheim) · Dr. Klaus Rettinghaus (Leipzig) · Dr. Ullrich Scheideler (Berlin) · Prof. Dr. Jan Philipp Sprick (Rostock) · Dr. Cornelia Thierbach (Leipzig) · Dr. Ralf Wehner (Leipzig) · Prof. Maren Wilhelm (Leipzig) · Dr. Felix Wörner (Basel)
Magdalena Haubs (München) · Jan Hugo (Leipzig)
Ulrike Brinkmann (Freiburg im Breisgau) · Gesa Eichhorn (Mainz) · Daniel Ernst (Leipzig) · Alexander Faschon (Leipzig) · Leanne Hohl (Köln) · Fabian Kant (Berlin) · Severin Kolb (Zürich) · Werner Kopfmüller (Leipzig) · Kristina Krämer (Mainz) · Dominik Kreuzer (Zürich) · Philipp Leibbrandt (München) · Felix Michel (Zürich) · David Reißfelder (Heidelberg) · Hanna Roth (Siegen) · Jasmin Schlotterbeck (München) · Bianca Schumann (Wien) · Asita Tamme (Essen) · Fabian Tinner (Zürich) · Roberta Vidic (Hamburg)
Prof. Dr. Inga Mai Groote (Heidelberg) · Prof. Dr. Christoph Hust (Leipzig) · Prof. Dr. Stefan Keym (Leipzig) für die Fachgruppe Musiktheorie der Gesellschaft für Musikforschung