Wirtschaftsbücher dokumentieren das Geschäftsverhalten eines Unternehmens aus einer ökonomischen Perspektive. Sie erlauben aber nicht nur Rückschlüsse auf den unternehmerischen Erfolg, sondern auch auf den Markt, der durch das Unternehmen bedient wird. Das Musikverlagswesen macht hier keine Ausnahme – Produkte und Produktion reagieren auf eine Nachfrage, generieren sie andererseits aber möglicherweise auch erst. Die Analyse von Wirtschafts- und Kalkulationsbüchern vermag deshalb dem Bild der Musikgeschichte, wie es sich aus persönlichen Aufzeichnungen, Aufführungen oder zeitgenössischen Publikationen ergibt, weitere Facetten hinzuzufügen und ergänzende Auskunft über historische Kanonisierung- und Geschmacksbildungsprozesse zu geben.
Um diesen Aspekten einer Alltags-Kulturgeschichte näher zu kommen, erfasst das DFG-geförderte Projekt Geschmacksbildung und Verlagspolitik. Repertoireentwicklung und Kanonisierung im Spiegel der Absatzentwicklung Leipziger Musikverlage (ca. 1830–1930) überlieferte Wirtschaftsdaten dreier Musikverlage (C. F. Peters, Friedrich Hofmeister, Rieter-Biedermann). Auf der Grundlage dieser Daten werden neue Fragen zum Musikalienmarkt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts jenseits persönlicher Vorlieben einzelner Akteur_innen gestellt. Diese betreffen nicht nur die sonst schwer auszuleuchtende Musikgeschichte des Privaten, sondern auch Wechselwirkungen im öffentlichen Musikleben: Wie beeinflussten sich Verkaufserfolg, öffentliche Aufführungen und Rezensionen? Welche Moden, Konjunkturen, Präferenzen können identifiziert werden?
In der Musikverlagsdatenbank werden dabei Normdaten zu den verlegten Werken, die in der Gemeinsamen Normdatei gepflegt werden, mit den Verlagswirtschaftsdaten (wie Auflagen- und Absatzhöhe) verknüpft, so dass Tendenzen beispielsweise für bestimmte Komponist_innen, Gattungen, Besetzungen, regionale Vorlieben erkennbar werden. Insgesamt werden dafür ca. 20.000 Geschäftsbucheinträge erfasst und mit Normdatensätzen für musikalische Werke in der GND verbunden, die dafür in der Mehrzahl der Fälle eigens angelegt oder qualifiziert werden. Ziel der Datenbank ist, die Geschäfts- und Werkdaten für quantitative Analysen aufzubereiten und entsprechende Abfragen über die Homepage selbst möglich zu machen. Sie wird deshalb traditionelle Verlagsverzeichnisse zwar nicht ersetzen, dennoch wird die Datenbank zugleich als umfassendes Nachschlagewerk zu Platten- und Verlagsnummern sowie als Datierungshilfe für (Erst-)Drucke aller Art dienen können. Die so entstehenden digitalen Roh- und Forschungsdaten zum Musikverlagswesen werden open access bereitgestellt.
Kontextualisiert werden diese im Lauf des Projekts erfassten Wirtschaftsdaten schließlich mit vielfältigen weiteren Quellen, um die quantitativ ermittelten Ergebnisse qualitativ zu vertiefen und so das Bild der Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts um Facetten einer Alltagsgeschichte zu erweitern.
Beispielseite Kalkulationsbuch Verlag Rieter-Biedermann, 1857–1919